Annette Riemann

Annette Riemann
Beyond the Horizon

Der Horizont hat eine fast magische Anziehung auf uns. Die Frage, was hinter dem Horizont ist, also nach dem, was sich der Wahrnehmung entzieht, zieht sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte. Ob es die Räume waren, die hinter der Krümmung der Erdoberfläche nicht mehr einsehbar sind oder der Makro- und Mikrokosmos, die aufgrund ihrer Dimensionen die menschlichen Sinne übersteigen und ohne technische Hilfsmittel nicht mehr wahrgenommen werden können.

Von Wissensdurst oder Gier getrieben, im eigenen Auftrag oder im Dienste von Regierungen – den Naturforschern, Philosophen, Wissenschaftlern und Künstlern ist nahezu jedes Mittel recht, um ihr Gesichtsfeld und damit ihren Wissens-Horizont zu erweitern. Folgten Männer und Frauen zunächst Flüssen, reisten über Ozeane, durch Wüsten und ewiges Eis, stoßen sie heute in die Tiefen des Meeres, in die Welt der Nanophysik und Quantenmechanik und in die Tiefen des Weltalls vor.

Hinter diesen Bestrebungen steht sicherlich nicht nur Forschergeist, sondern auch die Vorstellung von einer objektiven Beschreibung der Welt bzw. einer objektiven Wissenschaft, gepaart mit der Utopie von absolutem Wissen. Aber die Entwicklung hat in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass Erkenntnisse gleichsam von einem Horizont umschlossen sind und man immer wieder gezwungen ist, größere und umfassendere Perspektiven einzunehmen. Der Horizont erweist sich als eine bewegliche Größe. Als Wissenshorizont ist er der Spiegel, auf den sich das die Welt erforschende Ich selbst projiziert. Das denkende Ich ist quasi selbst die Projektionsfläche, mit deren Hilfe es versucht, die Geheimnisse des Universums zu ergründen.

Diesen Projektionsflächen, aus denen die Stoffe für Zukunftsvisionen und Utopien gemacht werden, spürt Annette Riemann in ihren Malereien nach. Ihnen sind transluzide und doch zugleich spiegelnde Flächen zu eigen. Sorgsam gesetzte horizontale Farbstreifen verleihen den Bildern räumliche Qualitäten. Naturähnliche Zitate an den irisierenden Horizontlinien laden die Malereien mit scheinbaren Bildinhalten auf. Dabei wirkt die Oberfläche gleichsam wie eine dünne Trennhaut zwischen drei Realitäten: der vermeintlichen Räumlichkeit der Farbfelder, einer dahinter liegenden potentiellen Ausdehnung ins Unendliche und dann findet sich noch der Realraum, der sich in den glatten Flächen spiegelt.

Der Realraum wird so zum konstituierenden Bildinhalt, wobei dessen stete Veränderung von Annette Riemann mit einkalkuliert ist. Die Beobachtung der steten Wandlung des Bildinhalts durch die Spiegelung des Realraums führt unmittelbar zu der eben erwähnten Utopie einer objektiven Wissenschaft. Objektive Wissenschaft setzt aber einen absoluten Standort voraus. Dies ist jedoch nicht möglich, da der Standort vom forschenden Ich besetzt wird und dieses Ich nimmt Einfluss. In der Quantenphysik wird dieses Phänomen durch die Heisenberg’sche Unschärferelation deutlich. Annette Riemann veranschaulicht diesen Sachverhalt ganz unkompliziert und unmittelbar durch die spiegelnden Flächen ihrer Malereien und führt so den Anspruch nach einer objektiven Wissenschaft via Kunst ad absurdum.

Mit ihrer Serie von Fotografien spielt Annette Riemann darauf an, dass sich etliche Utopien und Visionen im Realitätscheck selbst ad absurdum führen. Sie nutzt dafür Bildikonen der Weltraumfahrt aus den 60er und 70er Jahren. Damit kommen die damaligen Zukunftsvisionen in den Blick. Viele dieser Utopien sind heute im 21. Jh. Wirklichkeit geworden. Der Horizont hat sich seitdem erweitert.

Die kollektiven Bilder sind geblieben und ebenso die Zukunftsvisionen. Ein Rückblick: Ab 1959 landen Flugkörper auf dem Mond, ein Wettlauf zwischen den Russen den Amerikanern beginnt. 10 Jahre später dann landet Apollo 11 als erste bemannte Mondfähre auf dem Trabanten und löst einen regelrechten Hype aus. Die Welt ist im Taumel, eine Zukunftsvision jagt die nächste. Die Menschheit ist regelrecht berauscht von den Möglichkeiten und den in der Luft liegenden Versprechen: die Entdeckung ferner Welten, die Begegnung mit Außerirdischen, Besiedelungen neuer Welten, die Schaffung neuer Gesellschaftsordnungen ohne Krieg, Armut und Hunger...

Für diese Visionen und Utopien steht auch die TV-Serie „Raumschiff Enterprise (Star Trek)“, die drei Jahre vor Apollo 11 an den Start geht und bis heute ihre Faszination nicht verloren hat: Im 23. Jh. haben die Menschen auf der Erde soziale und wirtschaftliche Schwierigkeiten überwunden. Die Erkundung des Weltraums führt zu Allianzen mit außerirdischen Lebensformen. Die Besatzung des Raumschiffs „Enterprise“ von der „Vereinten Föderation der Planeten“ widmet sich der Entdeckung bislang unbekannter Lebensformen. Die Konfrontationen mit unerforschten Phänomenen und unbekannten Lebensformen stellen Captain James T. Kirk und seine Offiziere immer wieder vor schwierige Aufgaben. Eine davon ist natürlich die Kontaktaufnahme mit fremden Wesen.

Über eine mögliche Kontaktaufnahme machte sich natürlich auch die NASA Gedanken und verfolgt bis heute verschiedene Strategien. Eine der frühsten waren die so genannten binären Codes, bei denen Informationen durch Sequenzen von zwei verschiedenen Symbolen (zum Beispiel 1/0 oder wahr/falsch) dargestellt werden. Diese sollten als Radiosignale in den Weltraum gesendet werden. Annette Riemann hat diese frühen Botschaften in die Fotografien gestanzt und bringt damit zugleich die Geschichte der Lochkarten als Informationsträger in den Blick. Die eingestanzten Löcher sind erste Versuche formelhafte Botschaften an Außerirdische zu schicken. Sie erzählen über die Erde, ihre Position im All und über uns Menschen. Das Problem war nur: Wem auch immer die Entwickler diese Botschaften vorlegten, keiner konnte sie zunächst entschlüsseln; zumal sie – einmal um 90° gedreht – einfach nur Chaos ergeben.

Somit nimmt Annette Riemann mit dem Erzählen dieser Geschichten auch das Scheitern von Utopien kritisch in den Blick: „Jede Utopie interessiert sich auch schon für ihr Scheitern. In jeder Utopie ist auch ihr Gegenteil angelegt – die Dystopie, in der sich die Träume der Menschen in Alpträume verwandeln. So stellt sich beispielweise die Frage, ob Freiheit im Zeitalter der Digitalisierung überhaupt noch möglich ist?“

Aus dem Traum nach Freiheit entstehen beispielsweise Diktaturen, aus Heilmitteln, die uns von der Geißel von Krankheiten befreien sollen, Kampfstoffe und aus Weltraumforschungstechnologie, die uns freien Zugang in die Weiten des Weltalls bescheren sollen, Kriegsmaschinerie. Am Beispiel des World Wide Web zeigt sich derzeit, wie aus dem freien Fluss von Informationen Überwachungssysteme werden. So diskutiert Annette Riemann mit ihren Arbeiten ganz grundsätzlich die Idee von Freiheit als vielleicht der größten aller Utopien. Doch aller Ratio und Erfahrung zum Trotz – die Sehnsucht nach Freiheit ist in uns ungebrochen lebendig.

Auf diese ungebrochene Sehnsucht spielen die kleinen paradiesischen Objekte an, die entfernt an Strandhäuser erinnern, welche sich irgendwo im Nirgendwo zu befinden scheinen, an Unorten und damit an den eigentlichen Orten der Utopien (griechisch: ohne Ort). Es sind Sehnsuchtsorte, die Annette Riemann spielerisch zusammenstellt, mit Liebe wie auch Ironie.

Konkret beziehen sie sich auf die tragische Figur des Silver Surfer und angenommene Stationen seines Lebens. Norrin Radd – so sein wirklicher Name – ist ursprünglich ein Neben-Charakter der „Fantastischen Vier“ aus der Kunstwelt der Marvel Comics, ein männlicher Außerirdischer der humanoiden Rasse der Zenn-Lavianer. Er lebt zufrieden mit seiner Geliebten Shalla Bal auf dem Planeten Zenn-La im Deneb-System. Als dieser Planet von dem mächtigen Wesen Galactus bedroht wird, einem Planetenfresser, bietet Norrin Radd sich als Herold an, um Zenn-La zu retten.

Die Aufgabe dieses Herolds ist es von da an, im Universum nach neuen Planeten zu suchen, von denen sich Galactus ernähren könne. Galactus gibt seinem neuen Diener hierfür eine silberne Gestalt und ein Surfbrett als Fortbewegungsmittel – der Silver Surfer ist geboren. Seine Suche gilt von nun an unbewohnten Planeten und seine Sehnsucht der nun unerfüllbaren Liebe zur zurückgelassenen Shalla Bal.

So wie mit dem Begriff Sehnsucht auch das Suchen gemeint ist, so greifen auch die Titel der Objekte das sehnende Suchen wie auch die Idee von Freiheit auf: „Die Flucht“, „Auf der Suche“, „Zurück nach Zenn-La“. Das Surfbrett als Sinnbild für Freiheit schlechthin wirkt gleichsam als Verstärker diesen Themenkomplexes – steht doch das Surfen spätestens seit den 60ern für einen Lebensstil, der Freiheit und ein Leben im Einklang mit der Natur bietet.

In ihrer Verspieltheit erinnern uns die Space-Häuschen aber auch an die Fantasien unserer Kindheit, in denen wir uns unsere eigenen Orte bauten und in sie hineintauchten, dem Jetzt entflohen in eine andere Welt. Und sie bringen uns an die Träume, die gegenwärtig geträumt werden...

So unterschiedlich nun die Werkgruppen von Annette Riemann daherkommen – die abstrakten Horizont-Malereien, die Weltraum-Fotografien, die Space-Strandhäuschen – sie alle zielen auf eines ab: auf die Dinge und Vorstellungen, die sich hinter dem Horizont verbergen. Es sind unsere Utopien, Zukunftsvisionen und Sehnsüchte. Hintersinnig befragt, mit Empathie, mit Witz wie auch mit tiefgründigem Ernst führt uns Annnette Riemann mit ihrer Kunst ganz nah an existenzielle Fragestellungen und Bedürfnisse heran, an technologische und gesellschaftliche Entwicklungen und an die Frage, wie wir uns dazu verhalten möchten. Man darf gespannt sein, wie es weiter geht... Beyond the Horizon...

Dr. Stefanie Lucci, März 2014


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