Annette Riemann

Im Sog der Oberfläche
„Was ist das für eine seltsame Parteinahme, die blindlings die Tiefe überbewertet auf Kosten der Oberfläche, und die will, dass oberflächlich nicht von weiter Ausdehnung bedeutet, sondern von geringer Tiefe, während tief dagegen von großer Tiefe bedeutet und nicht von geringer Oberfläche.“

Wie der französische Romancier Michel Tournier kritisch anmerkt, suchen wir – scheinbar gezwungenermaßen – stets nach einem Sinn hinter der Oberfläche. Paradoxerweise betrifft dies auch das Bild, obgleich es von einer unverkennbaren Äußerlichkeit bestimmt ist. Die Oberfläche gilt seit der Antike, im Sinne eines schönen Scheins, einer Hülle oder eines Gefäßes, vor allem als Hinweis auf eine unsichtbare Bedeutung im Innern. Sinngebung liegt ein begrifflich bestimmtes Raumverständnis zugrunde. An dem Begriff „zugrunde liegen“ ist schon das Paradigma der Sprache zu erkennen und weitergehend, dass es nicht leicht ist, sich von dieser sprachlichen Befangenheit zu lösen. Wir neigen dazu, Bilder buchstäblich zu lesen.

Auf mittelalterlichen Gemälden, zum Beispiel, hatte der Goldgrund die Funktion, den Betrachter durch die feine Textur und den warmen Schimmer seiner Farbe sinnlich zu beeindrucken, seine eigentliche Bedeutung jedoch lag in der Nobilitierung der Heiligenfigur, die vor diesem gemalt wurde. Hinter der Anmut der Oberfläche stand das Heilsversprechen, das von dem jeweiligen Heiligen jenseits der gemalten Oberfläche ausging. Um diesen Bildsinn zu erschließen, bedurfte es jedoch einer spezifischen ikonografischen Kenntnis. Die Erfindung der Zentralperspektive in der Renaissance, mit dem Ziel, die Flächigkeit des Bildes illusionistisch zugunsten einer wirklichkeitsgetreuen Darstellung der Gegenstände und Figuren aufzuheben, kann weiterhin als ein Höhepunkt dieser Entwicklung – einer Überwindung der Oberfläche – angesehen werden. Erst in der Moderne wurde schließlich die Aufmerksamkeit auf ein autonomes Bedeutungsgeschehen an der Oberfläche gelenkt, wie es sich beispielsweise schon auch bei Caravaggios „ungläubigem Thomas“ erfahren lässt – augenscheinlich dort, wo sich in den Falten und Rissen nicht messbare Spannungen der Oberfläche entladen.

„Die moderne Welt versammelt ihre wichtigen Objekte und Erfahrungen auf den Oberflächen. Geist ist eine Angelegenheit der Horizonte, nicht der Tiefe.“

Die Arbeiten von Annette Riemann beschäftigen sich mit Oberflächen und deren Wirkung. Ihre großformatigen Bilder nehmen dem Betrachter die notwendige Distanz zur Differenzierung, werfen ihn sozusagen immer wieder auf die Oberfläche zurück. Es gibt keine Sinndifferenz zwischen außen und innen, Erscheinung und Wesen, Form und Inhalt. Riemann macht die Oberfläche oder besser die visuelle Erfahrung an der Oberfläche zum Thema ihrer Kunst. Je nach Aufmerksamkeit, Lichteinfall und Helligkeit sehen wir mal ein leises Schimmern der Farben, vielfach gebrochene Lichtreflexionen oder auch verschwommene Spiegelungen des umgebenden Raums. Mehr noch: Ihre Oberflächen klingen, fluten, flüstern und schreien.

Die Eigenschaften der Oberfläche haben ihre Voraussetzung im künstlerischen Verfahren. Mit dem Pinsel trägt Riemann Wasserfarben auf belichtetes Fotopapier auf. Dadurch, dass die hochkonzentrierten Farbpigmente in die oberste Schicht des Papiers eindringen, bildet sich eine sehr farbintensive, hochglänzende Emulsion mit einem bemerkenswerten Farbvolumen. Es scheint fast so, als ob das fixierte Licht des belichteten Fotopapiers die aufgetragenen Farben zum Leuchten bringt.

Riemanns Bilder thematisieren weniger den symbolischen als den affektiven Wert der Farbe. Im Vordergrund steht nicht die Komposition mit den Farben, sondern ihre Intensität, die sich an den unterschiedlichen Nuancen, Farbverläufen und Lichtreflexionen erfahren lässt. Dabei bestimmt nicht das einzelne Element den Rhythmus, es hat Teil an ihm. Es wird deutlich, dass Oberflächenäußerungen nicht nur Zeichen sind, die etwas ablesbar machen, sondern immer schon Teil einer Erscheinung, eines Ausdrucks.

„Jede Oberfläche definiert eine Grenze zwischen zwei Welten. Die jeweils äußerste Schicht eines Objekts ist der Ort, an dem das Objekt aufhört und die Umgebung anfängt. Und das bedeutet, dass Oberflächen nicht im selben Sinne zur Welt gehören wie das, was sie trennen.“

Aufgrund der homogenen Verbindung mit dem belichteten Papier und der fließenden Übergänge besteht weiterhin keine Hierarchie zwischen den einzelnen Farbflächen. Alles ist wesentlich. In diesem Sinne ist die Differenz von Form und Farbe aufgelöst, wodurch eine wesentliche Bewegung dieser Dekorationen zu tragen kommt, die als eine Kontraktion der Oberfläche bezeichnet werden könnte. Alles treibt an der Oberfläche nach außen, dem Betrachter entgegen. Einige ihrer Bilder sind zusätzlich von vegetabilen Ornamenten überzogen. Dadurch, dass keines dieser Ornamente – obwohl es sich insgesamt um ein Muster handelt – dem anderen wirklich gleicht, sie oftmals am Rand abgeschnitten sind und sich zudem an der Oberfläche unterschiedlich scharf abzeichnen, steigern sie noch den dekorativen Effekt. Das Muster suggeriert eine permanente Ausdehnung, es weist auf ein Nichtendenwollen. Unweigerlich gleiten unsere Blicke über die Bildränder hinweg. Es kommt zu einer Öffnung des Bildes mit einem situativen Bezug auf den externen Raum, der selbstverständlich wechselt, je nachdem, wo sich das Bild gerade befindet. Diese Bezugnahme oder besser Einbeziehung verstärkt sich noch durch die Spiegelungen, hervorgerufen durch die hochglänzende Oberfläche.

„Die oberflächlichste aller Oberflächen ist der Spiegel. Als Objekt verschwindet er in dem Maße, wie die Welt als gespiegelte aus ihm hervortritt. Reine Oberflächen sind deshalb die besten Medien. Sie spiegeln im Notfall sich selbst.“

Je nach Aufmerksamkeit und Blickwinkel sehen wir neue Bilder entstehen und wieder verschwinden. Oberflächen sind Grenzflächen auch in dem Sinne, dass sie eher dem Reich der Reflexion als dem der Objekte angehören. Je glatter nämlich eine Oberfläche ist, das heißt je undifferenzierter, desto mehr reflektiert sie ihre Umgebung und wird zum Ort virtueller Bilder.

Dank der dekorativen Bildordnung und der Spiegelungen werden expansive Kräfte frei, die auf einen realen oder auch imaginierten Kontext wirken. Riemanns Bilder beleben und verändern ihre Umgebung. Ihre Oberflächen sind deshalb auch weniger signifikativ als Ausdruck von Raum und Zeit, sondern eher evokativ als Zustand von Ausdehnung und Dauer zu fassen. Dabei erzeugen die changierenden Farben und Ornamentmuster einen Sog und evozieren nicht selten den Eindruck, auf eine seicht bewegte Wasseroberfläche zu blicken, sie laden ein, sich mitnehmen und treiben zu lassen.

„Wir gehen von den Körpern zum Unkörperlichen über, indem wir dem Grenzverlauf folgen, indem wir über die Oberfläche entlang gleiten.“

Bei den Bildern von Annette Riemann geht es nicht darum, etwas Verborgenes zu entschlüsseln, sondern sich auf die Erfahrung der unterschiedlichen, jedoch miteinander korrespondierenden Wirkungen der Oberfläche – Licht, Farbe, Spiegelungen – einzulassen. Diese Erfahrungen gestalten sich an jedem Ort und zu jeder Tageszeit anders. Aber auch die Vorstellungen und Gedanken des Betrachters bestimmen die Passagen zu den jeweiligen Orten, in denen es sich wunderbar verweilen lässt.

Holger Otten


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